Sonntag, 16. Juli 2017

Die unvorhergesehenen Nebeneffekte der Familienforschung

Ich kann es selbst kaum glauben, aber mit der Familienforschung habe ich vor ungefähr 20 Jahren angefangen. Überflüssig zu sagen, dass ich bis heute noch nicht fertig geworden bin damit, denn sonst würde ich jetzt nicht hier sitzen und mir meine Gedanken darüber machen, welche Auswirkungen mir diese wunderbare Beschäftigung in diesen zwei Jahrzehnten beschert hat... und da kommt einiges zusammen. 

Ich bin geduldiger geworden. Wenn mir früher jemand gesagt hätte, dass ich heute stundenlang über schwer entzifferbaren Handschriften hocken können würde, nur um einen einzigen Kaufvertrag für ein Grundstück zu transkribieren, das heute in der Form überhaupt nicht mehr existiert, dann hätte ich ihn für leicht ... na sagen wir mal: "optimistisch" gehalten. 

Ich bin gelassener geworden. Wenn man ewig lange nach einem bestimmten Sterbeeintrag sucht, nur um ihn dann in einem Ort zu finden, an dem man am wenigsten damit gerechnet hat, dann weiß man, dass es einem mit den anderen "Baustellen" im Stammbaum auch genauso gehen kann. Manchmal werden tote Punkte auch durchaus wieder lebendig. Wenn ich heute nicht finde, was ich suche, dann vielleicht morgen. Oder übermorgen. Oder im nächsten Jahr. 

Ich bin geselliger geworden. Früher gehörte ich zu denen, die nur im stillen Kämmerlein für sich allein vor sich hin geforscht haben. Heute ist das anders. Ich habe kein Problem, mich einzubringen, und mich interessiert auch, was die Forscherkollegen so alles aus der Vergangenheit wieder ans Licht bringen. 

Ich interessiere mich für Geschichte. Was damals in der Schule nun so gar nicht der Fall war. Das lag wahrscheinlich am klassischen Frontalunterricht und auch daran, dass man mich in der fünften Klasse gleich mit der Dorischen Wanderung quälte. "333 - Issos Keilerei" ist zwar auch bei mir hängen geblieben, aber ich habe damals nicht verstanden, was denn nun die Geschichte als solche überhaupt mit mir zu tun haben könnte. Falls ich in den neun Jahren am Gymnasium etwas von der Franzosenzeit gehört haben sollte, dann ist es bei mir jedenfalls nicht hängen geblieben. Den Ersten und auch den Zweiten Weltkrieg haben wir mehr oder weniger auch nur gestreift, wenn ich mich nicht sehr irren sollte. Im Grunde habe ich in jeder Geschichtsstunde gedanklich abgeschaltet und sie über mich ergehen lassen (oder aber die Zeit konstruktiv genutzt und meine Englisch-Hausaufgaben erledigt). Das hat sich in den letzten zwanzig Jahren doch ziemlich geändert. Eigentlich hat sich mein Geschichtsverständnis, so traurig wie es ist, nicht mal ansatzweise in der Schule entwickelt, sondern rein aus der Neugier heraus, zu begreifen, was meinen Vorfahren damals so alles passiert ist und unter welchen Umständen sie lebten - und starben. Sprich: Wenn die Neugier erst mal geweckt ist... 

Ich bin unendlich dankbarer geworden. Das ist wahrscheinlich die größte Veränderung, die ich bei mir festgestellt habe. Und damit hätte ich selbst auch in dieser Form nicht wirklich gerechnet. 

Wenn ich mein Leben mit denen meiner Vorfahrinnen vergleiche, dann hatten viele von ihnen nicht den Luxus, den ich heute habe: Ich bin jetzt 43 Jahre alt, gewollt kinderlos, habe nicht nur die Schule abgeschlossen, sondern auch noch ein Studium zwei Staatsexamina drangehängt (und füttere mein Hirn auch heute noch gerne bei Fortbildungen), bin beruflich selbstständig und habe mich nach zwanzig Jahren nichtehelicher Lebensgemeinschaft dazu hinreißen lassen, mit dem Mann, den ich auch tatsächlich liebe, vor die Standesbeamtin zu treten (und das nicht, weil unsere Bauernhöfe so schön zusammen gepasst hätten oder sich unsere Eltern sonstige finanzielle oder gesellschaftliche Vorteile von dieser Allianz erhofft hätten). Das ist ein Lebenslauf, den ich in den Generationen vor mir nicht gefunden habe, schon alleine, weil die gesellschaftlichen Zwänge einfach anders waren als heute - früher hätte man mich als Schlampe oder Hure geächtet, wenn ich mit meinem Mann so lange zusammengelebt hätte, ohne ihn zu heiraten (es sei denn, es wäre gar nicht erst soweit gekommen, weil ich schon an der Schwindsucht oder im Kindbett gestorben wäre). Zwar habe ich immer noch stark daran zu knabbern, dass mein Vater im Februar gestorben ist, aber ich bin unendlich dankbar, dass ich ihn so lange bei mir haben durfte, und dass ich bis auf ihn und meine beiden Großeltern 1986 und 1991 von Todesfällen im engeren Familienkreis verschont worden bin. Ich bin heilfroh, dass meine Mutter noch da ist, sie mich mit ihrer Energie und ihrer pragmatischen Art auf Trab hält, ich sie fast jeden Tag sehe und sie mich unterstützt, wo sie nur kann. Ich musste, anders als viele meiner Vorfahrinnen, dank der medizinischen Entwicklung des letzten Jahrhunderts, auch zum Beispiel nicht hilflos mit ansehen, wie die Hälfte meiner zahlreichen  und schicksalsbedingten Kinder an irgendwelchen ansteckenden Krankheiten starb, und mich trotzdem zwingen, irgendwie weiterzumachen, weil die - noch - überlebende Hälfte ja nun auch noch versorgt werden wollte. Wenn ich heute Hunger habe, dann gehe ich zum Kühlschrank oder setze mich mal gerade ins Auto und fahre zum Supermarkt - ich laufe nicht Gefahr, zu verhungern, nur weil die Ernte mal schlecht gewesen ist. Jedem ist klar, dass ich eine eigene Meinung habe, ich sie auch haben darf, und dass ich im Zweifelsfall auch kein Problem habe, sie zu äußern. Das unterscheidet mich auch heute noch (schlimm genug) von vielen Frauen auf dieser Welt: Ich darf Ich sein.  

Laufe ich nun deswegen wie eine Heilige durch die Welt? Nee, ganz bestimmt nicht. Wer mich kennt, der weiß, dass ich erschreckend weit davon entfernt bin (und ich das teilweise auch noch mit diebischem Vergnügen genieße). Aber es schadet nichts, wenn man sich mal ab und zu vor Augen führt, wie gut es einem doch geht und mit welchen Luxusproblemen man sich eigentlich oft herumschlägt. Wenn ich mal einen Sch*-Tag habe (und die hatte ich im letzten Jahr zur Genüge), dann hilft's jedenfalls ein bisschen, um mich wieder einzunorden. 

Vielleicht wäre ich auch ohne meine Familienforschung zu dieser Einsicht gekommen - aber so kann ich es immerhin an praktischen Beispielen festmachen. Zusammengefasst könnte man auch sagen: Ahnenforschung erdet ungemein. 




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