Montag, 11. April 2022

Halles "Lumpenbude"

Halle (Westf.) hat anscheinend ein Problem mit alten Gebäuden - bzw. mit der Frage, ob man sie abreißen soll oder ob es sich lohnt, sie in irgendeiner Art und Weise zu erhalten und wenn ja, als was? Eins dieser Probleme kennt man hier unter dem Stichwort "Borgers". 

Vor ein paar Tagen war ich mit meiner Mutter im Auto unterwegs. Wir kamen an der Ecke Klingenhagen/Mönchstraße vorbei, und der Anblick, der sich einem dort bietet, ist wirklich kein schöner: Ein altes, verfallenes und ziemlich häßliches Fabrikgebäude, das wirklich nicht mehr zu retten sein dürfte. Darüber besteht sogar ein gewisser Konsens, was in Halle längst nicht bei allen alten Gebäuden der Fall ist. Das Problem ist nicht das Gebäude selbst, sondern das, was sich an Giftstoffen unter der Erde verbirgt: Altlasten. Der Kommentar, den ich von meiner Mutter hörte, ging dann auch in eine ähnliche Richtung: 

"Die Lumpenbude... da haben sie sich alle die Lunge kaputt gemacht..." 

Solche Sätze sollte man gegenüber einer Familienforscherin nicht äußern, wenn man keine Nachfragen möchte. Also habe ich nachgefragt. 

Aufnahme von 1957 (Quelle: Stadtarchiv Halle (Westf.) über www.haller-zeitraeume.de)

Tatsächlich haben in diesem Gebäude wohl sowohl meine Großmutter mütterlicherseits als auch mindestens zwei ihrer Geschwister gearbeitet, wahrscheinlich sogar mehr. Damals wurde dort etwas betrieben, das man heute als "Textilrecycling" bezeichnen würde, sprich: Es wurden textile Abfälle verarbeitet. Und das staubt. Und Staub geht auf die Lunge. 

Dass meine Großmutter auch schon in jüngeren Jahren Probleme mit der Lunge hatte und lange in Behandlung war, das wusste ich. Ich habe diese Lungenprobleme nur nie mit diesem Gebäude in Verbindung gebracht. Das hat sich nun geändert. 

Ich kann noch nicht einmal sagen, wann genau Oma und ihre Geschwister dort gearbeitet haben. Ich nehme an, dass es ziemlich schnell nach der Schule war, aber das ist im Moment noch nicht mehr als eine Arbeitshypothese. 

Oma wurde im Oktober 1918 geboren, also dürfte sie entweder 1932 oder 1933 die Volksschule abgeschlossen haben. Hat sie direkt danach dort angefangen? 

Wenn ja, dann hieß die Firma damals noch "Ph. Stern OHG" ("Ph." für "Philipp"). Die Sterns, eine jüdische Familie, waren seit mindestens 1814 in Halle ansässig,  gehörten eindeutig zu Halles Oberschicht und waren zum Beispiel auch als Uhrmacher, Viehhändler und Kolonialwarenhändler tätig. Die "Lumpenbude", die schon damals so genannt wurde, befand sich zunächst da, wo die Sterns auch wohnten, nämlich an der Langen Straße (der späteren B68). 1923 wurde dann das Gebäude am Klingenhagen errichtet. Wie man auf dem Foto gut erkennen kann, lag es direkt an den Bahngleisen, was natürlich umso praktischer war. 

Wie vielen jüdischen Kaufleuten, so erging es auch den Sterns: Die Firma wurde "arisiert", und zwar hier, indem man sie an die Borgers KG aus Bocholt verkaufte. Borgers waren keine Unbekannten, denn schon vor dem Ersten Weltkrieg hatten Geschäftsbeziehungen zwischen den beiden Firmen bestanden. Ab dem 01.01.1939 - da war meine Großmutter 20 Jahre alt - firmierte man nur noch unter dem Namen Borgers, die Sterns tauchten nach 123 Jahren im Namen des Geschäfts nicht mehr auf. Die letzte "Haller" Generation, die aber schon in Bielefeld wohnte, hat es immerhin lebend aus Deutschland heraus geschafft. Borgers seinerseits gab den Betrieb in Halle 2007 auf, und seitdem steht das Fabrikgebäude da und verfällt. 

Tja, wo arbeitete meine Oma nun, bei Stern, bei Borgers, oder bei beiden?

 Körperlich gut getan hat es ihr jedenfalls nicht, aber Arbeitsplätze waren damals eben knapp, und man erwartete ja nun auch nicht gerade von jungen Frauen, dass sie zwingend eine Ausbildung machten. 

Vielleicht finden sich ja noch irgendwo alte Unterlagen, wer weiß? 

Die Geschichte der Familie ist übrigens gut erforscht. Wer Interesse daran hat, findet sie hier in den Haller Zeiträumen


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Wer etwas ergänzen möchte, kann das hier gerne tun: