Freitag, 20. Januar 2023

Tabus bei der Familienforschung?

Es gibt Momente, in denen ich mich fühle wie ein Eindringling. 

Und, wenn man es mal genau nimmt, das bin ich auch. 

Wenn ich anfange, eine Familie zu erforschen, dann dringe ich unvermeidbar in deren Sphäre ein. Ich habe hier extra nicht das Wort "Privatsphäre" gewählt, weil es mitunter die Frage ist, was "privat" ist und was nicht. Von verschiedenen Stellen wird diese Frage auch in verschiedener Weise beantwortet. Ich für meinen Teil frage mich zum Beispiel, warum Geburts-, Hochzeits- und Sterbedaten vom Gesetzgeber als privat eingestuft und die entsprechenden Urkunden mit Sperrfristen versehen werden, während man die meisten Informationen heutzutage als Anzeige in der Zeitung oder auf Facebook finden kann. 

Andere Informationen sehe ich da schon kritischer. Klar, ich finde es spannend, wenn ich lese, wer sich wie viel Geld von wem geliehen hat, aber über Finanzen spricht man auch heute ja nicht gerne. Trotzdem finde ich es interessant zu erfahren, wenn sich meine Vorfahren zum Aufbau ihrer beruflichen Existenz Geld geliehen haben, und auch, von wem. Wenn das alles 100 Jahre oder mehr her ist und die handelnden Personen nicht mehr am Leben sind, dann habe ich aber kein Problem damit, hier im Blog darüber zu schreiben. Mein Problem ist eher, die Zeit dafür zu finden... 

Ähnlich sehe ich es bei Informationen, die die Gesundheit betreffen. Wenn man an Krebs oder an einem Schlaganfall stirbt, dann ist das nichts Ehrenrühriges. Ich bin aber auch oft auf Einträge gestoßen, in denen die Diagnosen nicht nur etwas über den eigentlichen Tod aussagen, sondern auch über den Lebenswandel und die Lebensumstände, so dass man gewisse Rückschlüsse ziehen kann. In diese Kategorie fallen für mich übrigens auch Suizide, die sowohl in meiner weiteren Familie als auch in der meines Mannes vorgekommen sind. Die spare ich hier aus, wenn es noch lebende Abkömmlinge gibt. Aber auch hier gilt: Je weiter sie zurück liegen, desto geringer wird die Hemmschwelle, wenn auch sehr langsam. Wenn sich jemand vor 100 oder 150 Jahren umgebracht hat, ist das nicht dasselbe, schon alleine, weil es dann keinen Menschen mehr geben wird, der sich an diese Person als lebendigen Menschen erinnern kann und der sie geliebt hat. Und ja, wenn man in Sammelakten zu Sterbeeinträgen die näheren Umstände eines Suizids liest, dann fühlt man sich wie ein Eindringling. Zumindest geht es mir so. Aber andererseits gehören auch diese Geschichten zur Familiengeschichte dazu. Die Frage ist eher, ob ich hier darüber berichte, auch wenn ich völlig legal in den Besitz dieser Informationen gelangt bin. Und in diesem Fall lautet die Anwort halt "im Zweifelsfall nicht". 

Eine letzte Gruppe, die ich in diesem Zusammenhang noch erwähnenswert finde, ist die der "schwarzen Schafe". Machen wir uns nichts vor, wir sind alle keine Heiligen, aber manche weichen doch vom "Normverhalten" - immer im Spiegel der einschlägigen Zeiten gesehen - ab. Wenn man Glück hat, liefern solche Verhaltensweisen eine gute Anekdote, wenn man Pech hat, dann hat man es mit einer Tragödie zu tun, die sich auch noch auf die nachfolgenden Generationen auswirken kann. 

Unter dieser Kategorie würde ich zum Beispiel auch das verstehen, was unsere Vorfahren in den 1930er und 1940er Jahren getan (und unterlassen) haben. Also eher die "braunen Schafe", ohne hier irgendetwas verharmlosen zu wollen. Ich bin die Enkelgeneration, und ich finde, ich habe das Recht, diese Fragen zu stellen. Ob ich Antworten auf diese Fragen bekomme, steht natürlich auf einem anderen Blatt. Für meine Familie weiß ich, was das angeht, nach meinem Dafürhalten immer noch viel zu wenig. Ich weiß noch nicht einmal, ob jemand Parteimitglied war oder ob es vielleicht sogar Entnazifizierungsverfahren gab. Das ist übrigens etwas, das ich in den nächsten Monaten gerne ändern würde. Wenn ich da fündig wäre, dann hätte ich wohl auch kein Problem damit, hier darüber zu schreiben. 

Das musste ich mir übrigens tatsächlich einmal von einem älteren Herren bei einer genealogischen Veranstaltung anhören, und zwar in einem ziemlich patzigen Ton: "Und was machen Sie, wenn Ihr Opa Nazi war?" Da merkte man richtig am Tonfall, dass da noch keine Distanz zu dem Thema da war. Ich habe geantwortet, dass das dann wohl so wäre, ich es nicht ändern könnte und ich im Übrigen nicht mein Großvater bin sondern eine eigenständige Person mit eigenen Ansichten. Und diese Ansichten gehen in eine komplett andere Richtung. Ich finde überhaupt, dass über die Täter zu wenig gesprochen wird. Aber vielleicht ist meine Generation ja diejenige, die sich endlich traut, die richtigen Fragen zu stellen. Die erste Generation, in der dieses "Da spricht man nicht drüber" nicht mehr gilt. Und überhaupt, ich würde mir wünschen, dass mehr von den älteren Herrschaften mehr zu diesem Thema erzählen, selbst wenn sie damals "nur" Kinder waren. Wie war das damals? Was haben sie gedacht und gemacht? Und warum? Wie war das bei den Eltern?

Und was mich angeht: Mir hat mal jemand gesagt, dass ich hier im Blog ja mitunter auch ziemlich persönlich werde. Ja, stimmt, aber das bin halt ich. Das ist meine "Stimme", die man hier liest, oder vielleicht besser: Meine Schreibe. Das ist das, was diesen Blog von jedem anderen auf dieser Welt unterscheidet. Aber auch ich würde nicht alles von mir mit der ganzen Welt teilen wollen. Ich unterscheide da schon sehr genau. Mir ist egal, wer weiß, dass ich morgens erst nach der zweiten Tasse Kaffee richtig denken kann (auch, wenn es vorher durchaus zu grammatikalisch korrekter Konversation reicht), dass ich Spinnen für extrem faszinierende Tiere halte und dass mein Musikgeschmack im Grunde Anfang der 90er Jahre stehen geblieben ist. Ich habe auch generell kein Problem damit, meine Meinung zu teilen. Aber wenn es zum Beispiel um konkrete Zahlen geht, dann halte ich mich doch extrem bedeckt. Und das wird auch so bleiben... 

Kurz zusammengefasst: 

Ja, man kommt sich bei der Familienforschung auch schon mal vor wie ein Eindringling. Wer den Anspruch hat, die Wahrheit (oder vielleicht auch mal die verschiedenen Seiten einer Medaille) herauszufinden, der muss da halt durch. Was man mit den gewonnenen Erkenntnissen macht, das ist dann die nächste Frage. Veröffentlicht man sie oder nicht, oder erzählt man sie nur im Familienkreis? Da ist dann auch ein bisschen Verantwortungsbewusstsein gefragt.  

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