Mittwoch, 1. April 2015

"Die Amis kommen!"

Das war der Ausruf, den man heute vor genau 70 Jahren überall im Altkreis Halle hörte.
Hätte ich nicht gestern in der Zeitung einen entsprechenden Artikel darüber gelesen, dann hätte ich dieses Datum glatt verpasst. Dabei war der Artikel im Westfalen-Blatt gar nicht mal so uninteressant; er enthielt auch eine Karte, in der die Wege der verschiedenen Beteiligten nachgezeichnet werden. Aus urheberrechtlichen Gründen verzichte ich aber darauf, sie einzuscannen und hier einzustellen. Deshalb hier auch nur eine Kurzzusammenfassung der Ereignisse:
Der 1. April war ausgerechnet der Ostersonntag im Jahr 1945. Von einem ruhigen Feiertag mit Eiersuche und Aprilscherzen konnte aber keine Rede sein. Die 5. Armored Division der US Army traf im Altkreis auf Reste der 5. SS-Panzerdivision Wiking. Das erste Ziel war Versmold.
Schon am Vortag, dem 31.03.1945, waren der Versmolder Bürgermeister und einige Mitglieder des Volkssturms so klug gewesen, den verbliebenen deutschen Soldaten klar zu machen, dass Versmold nicht zu verteidigen sei, so dass man sich größtenteils nach Borgholzhausen verzog. Trotzdem liefen noch ein paar versprengte SS-Männer herum, schon teilweise in Zivil, und begannen Schießereien. Ihr Ziel war es, die Öffnung der Panzersperren zu verhindern. Bei der Zerstörung des Hauses Münsterstraße 60 starben acht Menschen. Im Ortsteil Hesselteich wurde ein Tankwagen in Brand geschossen. Bei den Kämpfen dort starben 18 Soldaten - neun auf jeder Seite.
Gleichzeitig ging es auch in Borgholzhausen zur Sache. Als dort am Morgen des 3. April 1945 der Beschuss endgültig eingestellt wurde, hatten schon 22 Menschen ihr Leben gelassen. Man war wegen des heftigen Widerstandes allen Ernstes kurz davor gewesen, diese kleine Stadt am Teutoburger Wald mit nicht einmal 2.000 Einwohnern zu bombardieren, so absurd einem das aus heutiger Sicht auch vorkommen mag.
Tags zuvor, am Ostermontag, hatten es die Haller den Amerikanern dagegen wesentlich leichter gemacht: Bürgermeister Eduard Meyer zu Hoberge hatte in weiser Voraussicht  erst gar keine Straßensperren errichten lassen, so dass die Amerikaner geradezu unbehelligt aus Kölkebeck kommend die heutige Alleestraße bis zum Amtshaus (heute: Rathaus) hinter sich bringen konnten, wo sie die Kapitulation der Stadt entgegen nahmen.
Zwei "Zwischenfälle" gab es aber trotzdem: Das Haus der Kreishandwerkerschaft brannte, was problematisch war, weil in direkter Nähe noch Fachwerkhäuser standen. Ein amerikanischer Soldat soll ein Bild von Hitler entdeckt und mit einer Granate beworfen haben (was man ihm wohl nicht verdenken kann). Besonderes Pech hatte der Steinmetzmeister Wilhelm Schmidt. Er wollte wissen, wie die Lage denn war, riskierte einen Blick aus dem Luftschutzkeller - und fing sich gleich eine MG-Salve ein. Man hatte ihn wohl versehentlich für einen Scharfschützen gehalten.
Was als nächstes folgte, war eine Kollaboration von "Siegern und Besiegten": Man plünderte die Bestände der Brennerei Kisker. Angeblich fand man an die 100.000 Flaschen Wacholder. Ich bin mir sicher, dass man sie gut gebrauchen konnte.
Am selben Tag ging es für die Amerikaner noch weiter über den Teutoburger Wald  nach Werther. (Wie es aussieht, sind sie auch an dem Haus vorbeigekommen, in dem ich jetzt gerade sitze und diese kleine Zusammenfassung schreibe. Ich werde mich das nächste Mal daran erinnern, wenn ich wieder genervt bin, dass gewisse Motorradfahrer hier gerne mal ein paar Gänge höher schalten. Trotz des höllischen Lärms, den sie dabei veranstalten, sind sie im Vergleich zu Panzern und Infanterie ja nun wirklich noch das kleinere Übel...)
Nach Werther wurde von zwei Seiten einmarschiert - über die Borgholzhausener Straße und über die Haller Straße. Beide waren durch Panzersperren gesichert.
An der Borgholzhausener Straße gab es einen heftigen Schusswechsel. Zwei Soldaten wollten gucken, wie weit die Amerikaner denn noch entfernt waren, und wurden sofort erschossen. Die Amerikaner eröffneten das Sperrfeuer, die Deutschen antworteten. Der Führungspanzer von Lt. Kleinsteiber wurde ausgeschaltet; Kleinsteiber überlebte nicht. Werther wurde trotzdem eingenommen; die Truppen bewegten sich über die Engerstraße; man wollte weiter nach Jöllenbeck. Dabei kamen sie direkt direkt am Haus meiner Familie neben dem damaligen Kippskrug vorbei. Ich kann nicht sagen, wo mein Großvater an diesem Tag war, aber meine Großmutter mit meinem Vater und die noch drei noch lebenden Schwestern meines Großvaters werden zu Hause gewesen sein.
An der Ecke Engerstraße/Jöllenbecker Straße, gegenüber vom Kippskrug, stand ein Kotten, der zum Grundstück gehörte. Aus Erzählungen weiß ich, dass dieser Kotten beschossen worden sein soll, allerdings ohne dabei in Brand zu geraten. In diesem Kotten soll eine Familie Kämper oder Kemper (ich kenne nun die genaue Schreibweise nicht) gewohnt haben. Inzwischen ist der Kotten aber längst abgerissen; heute steht dort ein Neubau. Falls jemand etwas über diese Episode weiß: Info bitte an mich. Schließlich wohnte meine Familie nur 100 Meter entfernt.
Der Vollständigkeit halber soll Steinhagen nicht unerwähnt bleiben: Hier starben bei einem "Scharmützel" um den Hof Detert am 3. April sechs Deutsche und zwei Amerikaner.
Wenn ich richtig gezählt habe, dann komme ich auf insgesamt 59 Tote. Viel zu viel, vor allem wenn man bedenkt, dass der Krieg zu diesem Zeitpunkt ja im Grunde schon entschieden war.
Ich weiß nicht, wie die Menschen den Einmarsch der Amerikaner damals empfunden haben. Mit einem Aufatmen, dass nun bald der Krieg zu Ende sein würde? Mit Angst, weil man nicht wusste, was danach kommen würde und man Vergeltung fürchtete?
Bald danach wurde auch der Altkreis Halle britische Besatzungszone.
Ich für mich habe es nie so empfunden, dass Deutschland den Krieg "verloren" hätte, und ich glaube, dass diese Einstellung noch nicht einmal etwas mit der Rede zu tun hatte, die Richard von Weizsäcker damals gehalten hat, als er sagte, dass das Kriegsende auch für die Deutschen ein "Tag der Befreiung" war. Ich kann mir nur einfach nicht vorstellen, dass man einen Krieg wirklich "gewinnen" kann. Bei soviel Leid auf allen Seiten kann es doch keinen "Gewinner" geben, oder? Nur ein Ergebnis. Und ein Teil dieses Ergebnisses ist, dass weder meine Eltern noch ich in einer Diktatur aufwachsen mussten.

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