Freitag, 3. März 2023

Jugend vor Fähigkeit?

In meinem letzten Post habe ich geschrieben, dass hier in der - jetzt ehemaligen - Grafschaft Ravensberg der Hof grundsätzlich an den jüngsten Sohn ging. Das kann auch heute noch so sein. Wer Lust auf etwas Juristerei hat, der kann gerne mal in § 6 der Höfeordnung gucken. Da ist ganz explizit auch vom "Jüngstenrecht" die Rede, auch wenn hier nicht mehr zwischen Söhnen und Töchtern unterschieden wird. Die Höfeordnung ist partielles Bundesrecht, soll heißen: Es ist zwar ein Bundesgesetz, aber es gilt nicht in ganz Deutschland, sondern nur in ein paar Bundesländern, nämlich in Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Hamburg und eben hier in NRW. In anderen Bundesländern gibt es dagegen eigene Landesgesetze, die dann nur für dieses eine Land gelten, aber es gibt auch durchaus Bundesländer, die überhaupt keine entsprechende Regelung haben und in denen "nur das normale Erbrecht" gilt, wenn man es mal untechnisch ausdrücken will.

Früher habe ich immer gedacht, dass der älteste Sohn im Grunde automatisch auch immer der Erbe würde. Aber damit lag ich, wie in vielen anderen Dingen auch, ziemlich falsch. Die Familienforschung hat mich da - wie so oft - ein bisschen klüger gemacht. 

Gut, im Grunde sollte ja eigentlich das fähigste Kind den Hof übernehmen. Wir mit unserem neuzeitlichen Denken dürften uns da ziemlich einig sein. Da sollte es dann auch egal sein, welches Geschlecht diese fähigste Kind hat. Ich stelle auch nicht das Anerbenrecht als solches in Frage, denn die Alternative wäre, dass man einen Hof unter den ganzen Erben aufteilt und damit viele kleine Minihöfe schafft. Wie viele es davon gegeben hätte bzw. auch heute noch geben würde, kann man sich ungefähr vorstellen, wenn man sich mal die Anzahl der Heuerlinge anguckt, denn oft waren sie ja die Colonsöhne, die eben nicht den Hof bekommen haben. Es gibt Schätzungen, dass um 1770 die Heuerlingsfamilien ungefähr zwei Drittel der Bevölkerung ausmachten. Wenn ich mir meine eigenen Forschungen so angucke, dann kann das gut hinkommen. Das änderte sich erst mit der Industrialisierung. 

Was sich mir nicht ganz erschließt: Warum war eigentlich der jüngste Sohn am Zug? Ich sehe da eigentlich nur Nachteile...? 

  • Stichwort Planungssicherheit: Beim ältesten Sohn wusste man immer, dass er der älteste Sohn war. Basta. Beim jüngsten war das nicht so sicher, denn solange die Biologie mitspielte, konnte ja schließlich immer noch ein Kind (= Sohn) nachkommen. Wer 1850 der Anerbe war, der musste es drei Jahre später nicht zwingend auch noch gewesen sein. Da konnten in der Zwischenzeit schon wieder zwei weitere Anerben geboren worden sein. 
  • Wenn der Vater nicht allzu alt wurde, was nicht ungewöhnlich war, dann war es ebenso wenig ungewöhnlich, dass der jüngste Sohn noch minderjährig war und einen Vormund brauchte. Auch wenn diese Herren oft aus der Familie kamen, so bedeutete es doch eine gewisse Einmischung von außen
  • Es übernahm derjenige den Hof, der die geringste Erfahrung hatte. Und der musste dann seine älteren Geschwister auszahlen.

Das sind schon ziemlich handfeste Argumente, finde ich. 

Und was spricht für das Jüngstenrecht? Angeblich soll es ja ums liebe Geld gegangen sein, denn bei jedem Generationenwechsel war der Weinkauf fällig, und diese finanzielle Belastung wollte man, wenn man sie schon nicht ganz vermeiden konnte, wenigstens so weit wie möglich hinauszögern. Okay, das kann ich einigermaßen nachvollziehen, denn auch heute zahlt keiner wirklich gerne Steuern. 

Aber kann das wirklich die Nachteile ausgleichen? Ich bin mir da nicht so sicher... 

 

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