Sonntag, 29. Oktober 2017

Die Verknüpfungslust des Genealogen

Im Moment schlafe ich jeden Abend über einer neuen Biografie ein, die jemand namens Frank Schäfer über Henry David Thoreau geschrieben hat und die ich hier in Halle in der Bücherei gefunden habe. Normalerweise halte ich ja einen gewissen Abstand, wenn ein Deutscher meint, einen Amerikaner analysieren zu können, aber hier hat immerhin der Suhrkamp-Verlag sein Geld investiert, so dass ich dachte, es könne ja nicht schaden, wenigstens mal ins Buch hineinzuschauen - zumal es mich nichts kostet. Bei Biografien ist es ja Standard, auch ein paar Worte über die Vorfahren, zumindest aber über die Eltern des zu Biografierenden, zu verlieren. Das macht Herr Schäfer auch: 200 Jahre werden auf einer knappen Seite (nämlich auf Seite 23 von 242) abgehandelt.

Auf dieser einen Seite bin ich über einen Satz gestolpert:

"Man muss bei genealogischen Kausalzusammenhängen vorsichtig sein - sie beweisen ja vor allem die Verknüpfungslust des Interpreten -, aber es ist doch zumindest bemerkenswert, dass einige der charakteristischen Merkmale Thoreaus (...) auf die eine oder andere Weise in seiner Ahnenreihe bereits präfiguriert zu sein scheinen." 

Ich war baff: Ich wusste noch gar nicht, dass es genealogische Kausalzusammenhänge gibt! Ich dachte immer nur, es gibt entweder Kausalzusammenhänge oder aber es gibt keine, und jetzt auch noch genealogische! Wieder was gelernt!

Und mal ganz abgesehen davon: Nur weil ein Ereignis ohne ein anderes, zeitlich davor liegendes, nicht eingetreten wäre, bedeutet das noch lange nicht, dass dieses Ereignis komplett davon abhängt. Wenn man so will: Es kann immer gut sein, dass einem das Leben dazwischen kommt. Im Herbst 1993 durfte ich mich ausführlich während meiner ersten Strafrechtsvorlesung mit dieser Thematik auseinander setzen. Ich bin also darauf getrimmt, mich mit Ursache und Wirkung zu beschäftigen. Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb mir diese sprachliche Ungenauigkeit so dermaßen auf die Nerven gegangen ist, dass ich mich sogar hier darüber auslasse.

Der zweite Punkt, und wahrscheinlich auch der wichtigere, ist doch, dass der liebe Herr Schäfer uns Forschern hier eine gewisse "Wird-schon-so-sein"-Mentalität unterstellt. Und das ärgert mich!

Bei einigen, die nicht sauber arbeiten, dürfte Herr Schäfer durchaus richtig liegen. Das bedeutet aber nicht, dass man hier so verallgemeinern darf. Ich für meinen Fall hoffe jedenfalls inständig, dass ich Zusammenhänge, die ich nicht beweisen kann, aber für durchaus möglich halte, als These kenntlich mache. Und dass ich niemals Fakten übersehen werde, die gegen die Wahrheit dieser jeweiligen These sprechen.

Im Grunde sollte man diesen einen Satz aber auch nicht zu ernst nehmen: Wenn man ihn nämlich bis zu Ende liest, dann merkt man, dass sein Verfasser hier seiner eigenen Verknüpfungslust nicht widerstehen konnte. Ich glaube jedenfalls nicht, dass die Tatsache, dass Thoreaus Vorfahren im Jahr 1685 als Hugenotten aus Frankreich vertrieben worden waren, etwas mit seinem betriebswirtschaftlichen Desinteresse, mit seinem Hang, sich in seinen Texten zu verfransen und seiner Tendenz, die Überarbeitung seiner Essays teilweise um Jahre aufzuschieben, zu tun hat...

Inzwischen habe ich etwas mehr als die Hälfte des Buches geschafft und bin schon ungefähr zehn Mal darüber eingeschlafen. Ich weiß noch nicht, ob ich es zu Ende bringen werde; wahrscheinlich werde ich anfangen, querzulesen. Das liegt aber nicht nur daran, dass Herr Schäfer meint, seine Ausführungen immer wieder durch den Gebrauch von den Textfluss erheblich störenden Fremdwörtern aufwerten zu müssen (das "präfiguriert" im Zitat oben ist ein schönes Beispiel dafür).  Mich stört eher, dass nichts durch Quellen untermauert wird und im Anhang auch nur ein paar Gesamtdarstellungen als Sekundärliteratur angeboten werden).

Mir fehlt da einfach was... wahrscheinlich werde ich mir heute Abend also mal wieder Thoreau selbst schnappen. Über "Walden" bin ich nämlich auch schon einige Male ins Land der Träume herübergeschlummert...!




Samstag, 21. Oktober 2017

Familienforschung und Patchworkfamilien

Wenn wir mal etwas genauer darüber nachdenken, dann sind Patchworkfamilien keine Erfindung der letzten paar Jahre - es ist nur so, dass wir erst seit ein paar Jahrzehnten einen Namen dafür gefunden haben. 

Gehen wir doch einfach mal in Gedanken 200 Jahre zurück. Eine "normale" Familie. Vater, Mutter, Kinder. Nehmen wir an, die Mutter stirbt bei der Geburt ihres fünften Kindes im Kindbett. Was macht der Vater? Logisch, er kann allein seine Kinderschar nicht oder nur mit großen Schwierigkeiten (vor allem logistischer Natur) versorgen, also sucht er sich nach angemessener Zeit eine neue Ehefrau. Wenn diese Ehefrau dann ihrerseits auch noch Kinder mit in die Ehe bringt, dann haben wir im Grunde genau das, was wir heute als "Patchworkfamilie" bezeichnen. Der einzige Unterschied ist, dass wir heute nicht mehr sofort heiraten (müssen), weil sich das Gesellschaftsbild insoweit verändert hat, als man nicht mehr schief angesehen wird, wenn man nicht sofort den Weg zum Standesamt antritt.

Oder eine andere Konstellation: Ein Ehepaar nimmt, sei es aus ideellen oder finanziellen Gründen, ein Pflegekind bei sich auf, und zwar nicht nur kurzfristig, sondern über Jahre. Patchwork.

Wie behandelt man also solche Patchworkfamilien in der Familienforschung? 

Für mich ist das einer der Fälle, in denen es kein Richtig oder Falsch gibt, aber wenn man sich wirklich für die Lebensumstände seiner Vorfahren interessiert und nicht nur für die bloßen Geburts- und Sterbedaten, dann sollte man sich auch mit denjenigen auseinandersetzen, die im selben Haushalt gewohnt haben, mit denen der Vorfahr aber selbst nicht blutsverwandt war. Gut, diese Auffassung kann bei mir auch damit zusammenhängen, dass ich mit einem anderen Familienbegriff sozialiert worden bin als die meisten meiner Vorfahren, aber hauptsächlich geht es mir doch darum, ein möglichst vollständiges Bild vom Leben derjenigen Personen zu bekommen, die ich gerade erforsche. Nehmen wir an, im ersten Beispiel oben wäre meine direkte Vorfahrin eben jenes fünfte Kind, bei dessen Geburt die Mutter stirbt. Die Familie, in der sie aufwachsen wird, besteht aus ihrem Vater, der Stiefmutter und den Stiefgeschwistern. Wenn mit diesen Stiefgeschwistern etwas passiert, sei es Tod durch Unfall oder Krankheit, oder meinetwegen auch die Auswanderung über den großen Teich mit der Wahrscheinlichkeit, den anderen nie wieder zu sehen, würde meine Vorfahrin dann einfach bloß mit den Schultern zucken und sagen, "Ach, betrifft ja nicht mich, ist ja nur meine Stiefschwester..."? Ich glaube nicht.

Und das ist für mich das schlagende Argument, zumindest ansatzweise auch nach denjenigen zu suchen, die mit meinen Vorfahren unter einem Dach lebten.

Eine Patchworkdecke lebt davon, dass ihr Anblick nur durch die einzelnen Stücke vollständig wirkt. Insofern ist der Ausdruck "Patchwork" eigentlich ganz treffend - bei Familien ist es genauso.