Katharine Marie Schwentker, geboren am 18.07.1867 in Wallenbrück Nr. 33, war die älteste Schwester meines Urgroßvaters Hermann Heinrich Schwentker. Zwischen den beiden lagen ungefähr fünfeinhalb Jahre, und während die Erinnerung an Uropa Schwentker zumindest bei meinem Vater noch ziemlich lebendig war, ist Marie im Laufe der Jahre zumindest in unserem Zweig der Familie in Vergessenheit geraten. Es ist also an der Zeit, das zu ändern.
Als Marie am 9. Juni 1894 in Wallenbrück den Fabrikarbeiter Peter Heinrich Rottmann aus Bardüttingdorf heiratete, wohnten die Schwentkers schon nicht mehr in Wallenbrück Nr. 33, sondern in Bardüttingdorf Nr. 13. Als Beruf ist bei Marie "Dienstmagd" angegegeben. Bei beidem sollte es nach der Heirat nicht bleiben.
Heinrich Rottmann lebte bereits 1894 als Fabrikarbeiter in Essen, und dorthin zog dann nach der Hochzeit auch Marie. Die beiden lebten im Stadtteil Segeroth in der Schlenhofstraße Nr. 64.
Das ist eine Adresse, die heute nicht mehr existiert, auch wenn es die Schlenhofstraße als solche noch gibt. Heute liegt sie in direkter Nähe der Universität Duisburg-Essen und läuft parallel zur Gladbecker Straße. Damals aber war das eine Gegend, in der die Mietskasernen ungeordnet wie Pilze aus dem Boden schossen, um die ganzen Zuwanderer, die durch die immer weiter fortschreitende Industrialisierung nach Essen kamen, irgendwie unterzubringen. Die Belegung wurde immer dichter. Auf der Homepage der Stadt Essen finde ich die Angabe, dass im Segeroth 1886 ungefähr 8.000 Menschen lebten, 1930 waren es schon 40.000. Diese Enge kann man sich heute kaum noch vorstellen. In vielen dieser Mietskasernen - von denen ein guter Teil von Krupp gebaut worden war -, wohnten Arbeiter, die dann auch in der Kruppschen Gusstahlfabrik beschäftigt waren, die den Segeroth nach Westen begrenzte. Schon Ende des 19. Jahrhunderts arbeiteten bei Krupp über 20.000 Menschen. Im Norden des Segeroth lag der Friedhof. Bei wikipedia finde ich die folgende Beschreibung:
"Segeroth bot den Vorteil des nahen Arbeitsplatzes, eine billige Wohngelegenheit und vermied Auseinandersetzungen mit der angestammten, eher kleinstädtischen Bevölkerung, da man hier unter sich war. Bei meist herrschendem Westwind kamen Ruß und Staub der nahen Gussstahlfabrik direkt ins Viertel, was die Wohnqualität massiv beeinträchtigte. Auch wenn die Miete günstig war, mussten einige Mieter diese mit der Aufnahme von Schlaf- und Kostgängern aufbringen. Naturgemäß war die Mehrzahl der Zuwanderer ledige Männer, was in Folge die Prostitution im Viertel begünstigte."
Was für ein Unterschied zum beschaulichen Wallenbrück!
Der Segeroth am Güterbahnhof um 1930, gefunden auf der Homepage des HV Essen, (c) Amt für Geoinformationen, Vermessung und Kataster der Stadt Essen
Marie muss ziemlich direkt nach der Hochzeit schwanger geworden sein. Das weiß ich, weil sie am 28.03.1895 mittags um halb 12 von einem totgeborenen Sohn entbunden wurde.
Es sollte noch schlimmer kommen: Marie hat die Geburt nicht überstanden; sie starb nur fünf 1/4 Stunden später, und zwar laut ihrem Eintrag im Essener Sterberegister im "Krupp'schen Lazareth".
Im Jahr 1870 hatte Alfred Krupp in direkter Nähe seines Firmengeländes ein Barackenlazarett errichtet, in dem nicht nur seine Belegschaft behandelt werden konnte, sondern auch Verwundete des Deutsch-Französischen Krieges 1870/1871. 1872 erteilte die Preußische Regierung dann die offizielle Konzession zum Betrieb eines Krankenhauses für Kruppschen Arbeiter in den Gebäuden dieses ehemaligen Lazaretts. Im Dezember 1886 wurde die Konzession noch einmal erweitert; in zwei kurz danach errichteten Pavillons konnten nun auch Frauen und Kinder aufgenommen werden. Es gab 52 Betten, und einem dieser Betten starb Marie. Sie wurde nur 27 Jahre alt.
Das sind die Gründe, weshalb ich sie als "Krupps Mariechen" im Kopf habe. Ich nehme stark an, dass Heinrich bei Krupp gearbeitet hat, obwohl ich das (noch) nicht belegen kann, aber alle Indizien sprechen nun einmal dafür. Hat schon mal jemand Erfahrungen mit dem Kruppschen Firmenarchiv gesammelt?