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Freitag, 28. Juli 2023

Als Werther noch eine Insel hatte (Werther gestern und heute Teil 1)

Wenn man früher aus Richtung Bielefeld nach Werther kam, dann musste man tatsächlich eine Insel überqueren - wenn auch nur eine kleine. 

Dieses Foto hier stammt aus dem Jahr 1909 und zeigt die heutige Alte Bielefelder Straße. Die wurde zu der Zeit zwar gerne auch Kirchstraße genannt - weil sie eben direkt an der Kirche vorbeiführte -, hieß aber offiziell seit der Einführung der Straßennamen in Werther 1925 "Bielefelder Straße". Damals gab es die heutige "Bielefelder Straße" in ihrer jetzigen Form noch nicht. Dafür war das hier eine von Werthers Hauptverkehrsachsen (was wohl auch einer der Gründe war, weshalb man sie in den 1930er Jahren nochmal umbenannt hat, dieses Mal aber nur für zwölf Jahre und nach einem österreichischen Malermeister mit Allmachtsfantasien). 

Wenn man genauer hinguckt, dann sieht man, dass die ersten beiden Häuser auf der rechten und linken Seite auf einer Insel im Schwarzbach lagen. Den Bach selbst kann man zwar nur erahnen, aber vorne links sieht man genauso ein Brückengeländer wie vor dem zweiten Haus auf der linken Straßenseite. Rechts ist die Mauer aus Stein. De facto musste man also eine Insel überqueren, wenn man aus Richtung Bielefeld in die Wertheraner Innenstadt wollte. Schon vorher hatte der Schwarzbach eine gewisse Bedeutung erlangt: Zur Franzosenzeit bildete er die Grenze zwischen dem Königreich Westphalen und Frankreich. Die Bewohner der Häuser hinter der Brücke waren also mal für ein paar Jahre Franzosen. 

"Franzosenzeit" ist in diesem Zusammenhang ein gutes Stichwort. Nicht nur heute hat Werther an dieser Stelle noch das Problem, dass dort bei Gewittern mit Starkregen gerne mal Wasser langfließt und sich dann an einer Stelle weiter links sammelt. Auch früher war es hier schon wirklich gefährlich: Am 1. Juni 1808 starb der Bürger und Grützmacher Johann Henrich Wulfrath in seinem Haus, also dem hier auf der linken Seite. Sein Sterbeeintrag verrät, wie er ums Leben kam: 

"Bey der durch den Wolkenbruch plötzl. auftretenden Ueberströmung in seinem Hause ertrunken." 

Da war er 74 Jahre alt. 

In den nächsten Jahrzehnten wechselte das Haus dann öfter den Besitzer, bis es 1861 von einem gewissen Schmiedemeister namens Johann Gottlieb Tiede erworben wurde. Dieser Gottlieb Tiede war aus dem Kreis Heiligenbeil in Ostpreußen zugewandert - was ihn ausgerechnet ins kleine, beschauliche Werther verschlagen hat, werden wir wohl nie erfahren - und baute hier neben seiner Familie (er hat immerhin dreimal geheiratet) auch sein Unternehmen auf: Tiede Landtechnik. Die eigentliche Schmiede, in der alles angefangen hat, befand sich in einem Gebäude hinter dem Haus. Später hatte die Firma Tiede dann ihr Betriebsgelände am Esch; ich habe nicht weit entfernt in derselben Straße gewohnt und kann mich noch gut an die Menschenmengen erinnern, die zur Tiedeschau pilgerten. Aber auch die ist inzwischen Geschichte. 

Das Haus auf der rechten Seite gehörte seit 1897 dem jüdischen Viehhändler Feodor Sachs. Er ist 1942 noch in Werther gestorben. Bis 1943 wohnte noch sein Sohn Julius mit seiner Familie im Haus, dann wurden die Familienmitglieder deportiert und anschließend in Auschwitz umgebracht. 

Beide Häuser und die Insel gibt es heute nicht mehr. Der Schwarzbach wurde neu verrohrt, die Häuser abgerissen. Dort, wo die Schmiede Tiede stand, wartet man heute auf den Bus, jedenfalls dann, wenn die Alte Bielefelder Straße nicht mal wieder wegen einer Baustelle gesperrt ist. Das Haus von Familie Sachs wurde 1959 abgerissen, Es stand dem Neubau des evangelischen Gemeindezentrums im Weg. Das steht zwar nicht genau an derselben Stelle, sondern etwas weiter oberhalb (da, wo der niedrige lange Schuppen direkt an der Straße war), aber es ist mit seinem Saal halt doch ein bisschen größer und hätte mit einer Ecke in das alte Haus geragt... 

Nur mal zum Vergleich: So sieht es heute an genau derselben Stelle aus:
 

Das war letzten Sonntag, am 23.07.23, nachmittags gegen halb fünf. Wirklich lebendig wirkte Werther da nicht... ;-)

Donnerstag, 4. Mai 2023

Spuren Jüdischen Lebens in Werther

Ende 2007 wurde zum insgesamt vierten(!) Mal der Jüdische Friedhof in Werther geschändet. Diesen Friedhof oben an der Egge gibt es seit 1889; das letzte Begräbnis fand noch 1942 statt. Insgesamt findet man hier 23 Gräber. 

Man hätte sich nun darauf beschränken können, sich lautstark darüber zu beschweren, dass es Leute gibt, die so dermaßen neben der Spur sind, dass sie überhaupt auf die Idee kommen, Grabsteine zu beschmieren oder umzuschubsen (was aus meiner Sicht übrigens für alle Gräber gilt, nicht nur für die auf jüdischen Friedhöfen). Aber nein, in Werther passierte etwas anderes: Es gründete sich 2008 ein Arbeitskreis mit den Zielen, das Schicksal der jüdischen Familien aus Werther aufzuarbeiten, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und damit ein deutlich sichtbares Zeichen gegen Antisemitismus zu setzen

Das war der Beginn des Arbeitskreises Spuren jüdischen Lebens in Werther. 

Dieser Arbeitskreis kann jetzt sein 15jähriges Jubiläum feiern, denn selbst in einer Kleinstadt wie Werther mit seinen knapp 12.000 Einwohnern kann es gelingen, über einen so langen Zeitraum durchgängig Menschen zu finden, die sich durchgängig engagieren. Dazu gehören nicht nur das Aufstellen des Gedenksteins an der Ravensberger Straße, nur ein paar Meter von dem Standort der ehemaligen Synagoge entfernt, und die Arbeit in den örtlichen Schulen. Wer in der Schule gelernt hat, was damals passiert ist, der wird wohl kaum auf die Idee kommen, Hakenkreuze auf Grabsteine zu sprühen. Danke dafür! 

Nun hat der Arbeitskreis endlich auch eine eigene Homepage, nämlich hier: 

www.arbeitskreis-spuren-werther.de

Wer sich für das Thema interessiert, der sollte sich auf dieser Seite mal angucken. Man findet unter dem Unterpunkt "Jüdische Familien" auch Stammbäume

Bis jetzt liegt der Schwerpunkt des Arbeitskreises eher auf den Geschehnissen des 20. Jahrhunderts, Wenn man sich mal vergegenwärtigt, was da bis jetzt an Recherche betrieben worden ist, dann kann das auch nicht verwundern, denn das ist der Teil, der auch in den Köpfen der Leute am präsentesten ist. Ich selbst würde mich freuen, wenn man auf der Seite demnächst mehr über das jüdische Leben in Werther vor 1933 erfahren könnte, denn das gab es ja schließlich auch.

Montag, 11. April 2022

Halles "Lumpenbude"

Halle (Westf.) hat anscheinend ein Problem mit alten Gebäuden - bzw. mit der Frage, ob man sie abreißen soll oder ob es sich lohnt, sie in irgendeiner Art und Weise zu erhalten und wenn ja, als was? Eins dieser Probleme kennt man hier unter dem Stichwort "Borgers". 

Vor ein paar Tagen war ich mit meiner Mutter im Auto unterwegs. Wir kamen an der Ecke Klingenhagen/Mönchstraße vorbei, und der Anblick, der sich einem dort bietet, ist wirklich kein schöner: Ein altes, verfallenes und ziemlich häßliches Fabrikgebäude, das wirklich nicht mehr zu retten sein dürfte. Darüber besteht sogar ein gewisser Konsens, was in Halle längst nicht bei allen alten Gebäuden der Fall ist. Das Problem ist nicht das Gebäude selbst, sondern das, was sich an Giftstoffen unter der Erde verbirgt: Altlasten. Der Kommentar, den ich von meiner Mutter hörte, ging dann auch in eine ähnliche Richtung: 

"Die Lumpenbude... da haben sie sich alle die Lunge kaputt gemacht..." 

Solche Sätze sollte man gegenüber einer Familienforscherin nicht äußern, wenn man keine Nachfragen möchte. Also habe ich nachgefragt. 

Aufnahme von 1957 (Quelle: Stadtarchiv Halle (Westf.) über www.haller-zeitraeume.de)

Tatsächlich haben in diesem Gebäude wohl sowohl meine Großmutter mütterlicherseits als auch mindestens zwei ihrer Geschwister gearbeitet, wahrscheinlich sogar mehr. Damals wurde dort etwas betrieben, das man heute als "Textilrecycling" bezeichnen würde, sprich: Es wurden textile Abfälle verarbeitet. Und das staubt. Und Staub geht auf die Lunge. 

Dass meine Großmutter auch schon in jüngeren Jahren Probleme mit der Lunge hatte und lange in Behandlung war, das wusste ich. Ich habe diese Lungenprobleme nur nie mit diesem Gebäude in Verbindung gebracht. Das hat sich nun geändert. 

Ich kann noch nicht einmal sagen, wann genau Oma und ihre Geschwister dort gearbeitet haben. Ich nehme an, dass es ziemlich schnell nach der Schule war, aber das ist im Moment noch nicht mehr als eine Arbeitshypothese. 

Oma wurde im Oktober 1918 geboren, also dürfte sie entweder 1932 oder 1933 die Volksschule abgeschlossen haben. Hat sie direkt danach dort angefangen? 

Wenn ja, dann hieß die Firma damals noch "Ph. Stern OHG" ("Ph." für "Philipp"). Die Sterns, eine jüdische Familie, waren seit mindestens 1814 in Halle ansässig,  gehörten eindeutig zu Halles Oberschicht und waren zum Beispiel auch als Uhrmacher, Viehhändler und Kolonialwarenhändler tätig. Die "Lumpenbude", die schon damals so genannt wurde, befand sich zunächst da, wo die Sterns auch wohnten, nämlich an der Langen Straße (der späteren B68). 1923 wurde dann das Gebäude am Klingenhagen errichtet. Wie man auf dem Foto gut erkennen kann, lag es direkt an den Bahngleisen, was natürlich umso praktischer war. 

Wie vielen jüdischen Kaufleuten, so erging es auch den Sterns: Die Firma wurde "arisiert", und zwar hier, indem man sie an die Borgers KG aus Bocholt verkaufte. Borgers waren keine Unbekannten, denn schon vor dem Ersten Weltkrieg hatten Geschäftsbeziehungen zwischen den beiden Firmen bestanden. Ab dem 01.01.1939 - da war meine Großmutter 20 Jahre alt - firmierte man nur noch unter dem Namen Borgers, die Sterns tauchten nach 123 Jahren im Namen des Geschäfts nicht mehr auf. Die letzte "Haller" Generation, die aber schon in Bielefeld wohnte, hat es immerhin lebend aus Deutschland heraus geschafft. Borgers seinerseits gab den Betrieb in Halle 2007 auf, und seitdem steht das Fabrikgebäude da und verfällt. 

Tja, wo arbeitete meine Oma nun, bei Stern, bei Borgers, oder bei beiden?

 Körperlich gut getan hat es ihr jedenfalls nicht, aber Arbeitsplätze waren damals eben knapp, und man erwartete ja nun auch nicht gerade von jungen Frauen, dass sie zwingend eine Ausbildung machten. 

Vielleicht finden sich ja noch irgendwo alte Unterlagen, wer weiß? 

Die Geschichte der Familie ist übrigens gut erforscht. Wer Interesse daran hat, findet sie hier in den Haller Zeiträumen


Donnerstag, 30. Dezember 2021

Ein Päckchen zum Jahresende

Gestern drückte mir mein Postbote ein Päckchen in die Hand, das ich für mich durchaus als "Happy Mail" bezeichnen würde: Post vom Historischen Verein, dieses Mal die Ravensberger Blätter II/2021 und der inzwischen 106. Jahresbericht, Jahrgang 2021. Und das, obwohl ich es noch nicht einmal geschafft habe, die neue Computer-Genealogie ganz zu lesen, die mir derselbe Postbote kurz vor Weihnachten gebracht hatte...! 

Dieses Mal befassen sich die Ravensberger Blätter schwerpunktmäßig mit dem Thema "Bomben auf Bielefeld - Aspekte des Luftkriegs", was für mich ja auch interessant ist, weil ja auch meine erweiterte Familie betroffen war; ich hatte hier schon mal darüber berichtet. Trotzdem habe ich mich erst einmal auf einen anderen Artikel gestürzt: "Die Geschichte der jüdischen Familie Stern in Halle (Westf.)" von Wolfgang und Katja Kosubek und Martin Wiegand. Die Historie als solche kannte ich zwar schon, und die Sterns sind mir im "Juden- und Dissidentenregister" auch schon über den Weg gelaufen, aber man liest selten eine komprimierte Familiengeschichte, die so auf den Punkt geschrieben ist, aber trotzdem mehrere Jahrhunderte umfasst. Je mehr ich drüber nachdenke, desto weniger kann ich eigentlich verstehen, wie es dazu kommen konnte, dass die Geschichte der Sterns zumindest in Halle endete. Obwohl - wenn ich mir angucke, welchen Hass man heutzutage im Netz lesen muss, dann sollte mich das eigentlich nicht wundern.

Den Jahresbericht muss ich mir noch ein bisschen genauer angucken; auf den ersten Blick scheint er thematisch ziemlich abwechslungsreich zu sein, aber ein bisschen fehlt mir da (wie im Übrigen auch bei den Ravensberger Blättern) der genealogische Faktor. Vielleicht liegt es daran, dass es halt etwas schwierig ist, genealogische Themen in Aufsätze zu verpacken? Schließlich kann ja nur veröffentlicht werden, was auch geschrieben wurde. 

Wie dem auch sei - für die nächsten Tage habe habe ich genug Lesestoff. Nicht, dass ich nicht schon genug hätte. Abgesehen davon, dass ich gedanklich gerade auch noch mit Commissaire Georges Dupin durch die Bretagne streife, wartet danach auch noch ein anderer historischer Stoff auf mich: Bruno Preisendörfers "Als Deutschland erstmals einig wurde - Reise in die Bismarckzeit". Sowas kommt dabei raus, wenn ich eine Buchhandlung betrete... je mehr ich über meine Vorfahren weiß, desto mehr will ich über die Zeit wissen, in der sie lebten. Klingt komisch, ist aber so. 

Gut, dass jetzt zwei freie Tage anstehen. In diesem Sinne: 

Allen einen guten Rutsch und ein fröhliches, gesundes Jahr 2022!

 


Sonntag, 3. Oktober 2021

Werthers Gedächtnis und die kniffelige Frage der Religion

Wenn man genealogische Quellen auswertet, dann hat man oft das Problem, dass Leute fehlen. Ich meine das in dem Sinne, dass in Kirchenbüchern meist die Nicht- oder Andersgläubigen ausgeblendet sind (die man dann vielleicht in einem "Juden- und Dissidenten-Register" findet) und in Hofchroniken die "Untergebenen", wenn sich die Darstellung darauf beschränkt, in welcher Linie ein Hof weitergegeben wurde. Erfasst wird meist nur eine bestimmte Gruppe von Menschen, und zwar durch den Zweck der Quelle vorgegeben. Bei Werthers Gedächtnis hatte ich immer den Hintergedanken, dass sich hier alle gleichberechtigt nebeneinander tummeln sollten, egal, ob oder welcher Religion sie angehört haben, wie alt sie geworden sind oder welche gesellschaftliche Stellung sie inne hatten. Wenn jemand in Werther geboren war, geheiratet hatte oder dort gestorben war, und sei es auch nur durch einen doofen Zufall, dann reicht das völlig aus, um in Werthers Gedächtnis aufzutauchen. Man kann auch Leute darin finden, die einfach nur dort gelebt haben. 

Kurzum: Werthers Gedächtnis soll inklusiv sein. Keine Schubladen. 

Trotzdem, die Religion macht mir Probleme. 

Bis jetzt habe ich es so gehalten, dass ich Juden und Jüdinnen mit einem * hinter dem Namen markiert hatte, Katholiken und Katholikinnen mit **, und bei allen anderen, die nicht evangelisch waren, habe ich den Namen der Religion ausgeschrieben. Das rührt noch aus den Anfangszeiten her, weil ich mit den evangelischen Kirchenbüchern angefangen hatte und dort höchstens mal ein angeheirateter Katholik vorkam. Außerdem hatte noch ein paar Genealogien gefunden, in denen Wertheraner Juden auftauchten. Sekundärquellen, die ich noch überprüfen wollte. Die eigentlichen (Primär-)Quellen hatte ich aber noch gar nicht eingearbeitet, weil ich dachte, dass das hier sowieso mein Privatvergnügen sei und es das auch bleiben würde. 

Es kam anders. Ich hockte nicht nur über den Kirchenbüchern von Werther, sondern zum Beispiel auch über denen von Stockkämpen, und es erschienen immer mehr Originalquellen online. Archion, Matricula und dem Landesarchiv sei Dank. Ich merkte, dass mein Blog von immer mehr Leuten gelesen wurde, weil mich immer mehr Leute darauf ansprachen oder mir Mails schickten. Da war irgendwann der Punkt erreicht, an dem es für meinen eigenen Anspruch notwendig wurde, auch bei Werthers Gedächtnis die Quellen mitzuerfassen. Auch wenn das hieß, dass ich mir damit wahrscheinlich noch ein paar zusätzliche Jahre Arbeit eingeheimst hatte. Auch gut. 

Inzwischen gucke ich mir die * und ** an und frage mich nicht nur, ob sie noch notwendig sind, sondern auch, ob sie nicht sogar diskriminierend sind? 

Vor ein paar Jahren hatte ich hier mal einen Post darüber geschrieben, wer denn bei den jüdischen Wertheraner Jungs die Beschneidungen vorgenommen hat. Die Beschneidungen habe ich genauso eingearbeitet wie die Taufen bei den christlichen Kindern, weil ich die Daten eben hatte und es für die Familien wahrscheinlich ein bedeutendes Ereignis war. Heute gucke ich darauf und frage mich, welchen Mehrwert diese "Beschnneidungs-Info" bei Werthers Gedächtnis hat. Ob sie überhaupt einen hat. Auf die Taufen kann ich nicht verzichten, weil ich manchmal nur ein Taufdatum und kein Geburtsdatum habe und weil die Paten oft bei der Entschlüsselung der Verwandtschaft helfen können. Aber die Beschneidungen? Wird damit nicht eine Aufmerksamkeit auf ein "Anderssein" gelenkt, die ich eigentlich vermeiden wollte? 

Muss ich im eigentlichen Text überhaupt Angaben über die Religion machen, und wenn ja, muss ich es dann nicht bei jedem hinschreiben? Das hieße im Umkehrschluss, dass ich bei allen anderen auch noch "evangelisch" hinschreiben müsste, und der Gedanke an das ewige Copy & Paste schreckt mich wirklich ab! Und wir reden hier wirklich von Tausenden von Einträgen.

Ich glaube, ich werde tatsächlich auf die Religionszugehörigkeit im Text verzichten. Wer etwas über die Religion wissen will, der soll in die Quellen gucken oder sich auch meinetwegen die Originaldokumente ziehen.

 

Montag, 9. November 2020

Werther, im November 1938

Mit dem 9. November tue ich mich immer ein bisschen schwer, und erst recht mit dieser Bezeichnung "Schicksalstag der Deutschen". Das klingt so fatalistisch, als käme man nicht gegen aktuelle Geschehnisse an und könne nichts selbst beeinflussen, was ich einfach nicht glauben kann und will. Dass sich einzelne Ereignisse just an diesem Tag im Kalender so kumulieren, halte ich für einen ziemlichen Zufall, wenn man mal die Verbindung zwischen gescheitertem Putsch in München und der Pogromnacht rausnimmt. Dass die Mauer ausgerechnet am 9. November fiel, hat damit jedenfalls datumsmäßig ziemlich wenig zu tun. 

Ich kann mich noch an einen 9. November erinnern, an dem ich (damals noch als Teenager zu CVJM-Zeiten, also wirklich lange her) bei der Mahnwache auf dem Jüdischen Friedhof oben an der Egge war. Zu meiner eigenen Schande muss ich gestehen, dass ich den Friedhof seitdem nicht mehr betreten habe. Ich war auch noch nie auf dem jüdischen Friedhof hier in Halle (Westf.). Ich rede mir ein, dass es hauptsächlich daran liegt, dass beide verschlossen sind, wobei ich schlimm finde, dass es auch in heutigen Zeiten einen Grund dafür gibt, dass sie anscheinend verschlossen sein müssen. 

Trotzdem - der 9. November 1938 war der Tag, an dem alle spätestens hätten wissen müssen, dass da etwas sehr, sehr Ernstes vor sich geht. Dafür war die Gewalt zu offensichtlich. 

In Werther gab es - im Gegensatz zu Halle - damals noch eine Synagoge, die zwar nicht zerstört, aber schlimm verwüstet wurde. Das Gebäude selbst existiert nicht mehr. Die Wertheraner Thorarolle gibt es noch; sie wird inzwischen in der Synagoge in Bielefeld an der Detmolder Straße im Thoraschrank aufbewahrt, was ja nun auch keine Selbstverständlichkeit ist. 

Die Synagoge in Werther, Quelle: www.geschichtsportal-werther.de

Ja, auch im kleinen Werther (Werther-Stadt hatte damals so an die 2.600 Einwohner) spielten sich unschöne Szenen ab, wenn auch erst mit einem Tag Verspätung. Das Textilgeschäft Weinberg, mitten im Ort an der Ravensberger Straße gelegen, wurde zur Zielscheibe, noch bevor man sich der Synagoge widmete. Fünf jüdische Männer, Hugo Alexander, Julius Weinberg, Philipp Sachs, Max Sachs und Julius Sachs, wurden verhaftet und teilweise ins KZ überstellt. 

In Werther gibt es heute einen sehr aktiven Arbeitskreis Spuren jüdischen Lebens in Werther, der die Vorgänge damals aufbereitet hat. Auch die Erinnerungen des damaligen Amtmanns Ellerbrake sind erhalten und transkribiert. Zusammen mit anderen Zeitzeugeninterviews findet man sie im Geschichtsportal Werther. Hier ist der Link zur Übersichtsseite. 

Wenn ich Wilhelm Ellerbrakes Erinnerungen so lese, dann kann ich mir bildlich vorstellen, wie es im November 1938 in Werther zugegangen ist, auch wenn diese Erinnerungen erst später niedergeschrieben wurden und deshalb immer mit ein wenig Vorsicht zu genießen sind. Ich kann mir bildlich vorstellen, wie die Wertheraner in der Ravensberger Straße standen und guckten, was bei Weinbergs passierte. 

Worüber ich gestolpert bin ist die Tatsache, dass sich viele anscheinend mehr darüber aufgeregt haben, dass die Nazis Kinder zum Zerstören angestachelt haben, als über den Akt der Zerstörung selbst - da frage ich mich doch automatisch, wo denn in der Zeit ihre Eltern waren... haben die einfach nur zugeguckt? 

Ja, es waren andere Zeiten damals. Hoffe ich. Obwohl - auch heute muss man genau gucken, wer denn auf der Demo direkt neben einem läuft. Sonst lässt man sich genauso instrumentalisieren wie die Zuschauer damals... 



Donnerstag, 12. Januar 2017

Die Sache mit der Beschneidung...

... betrifft mich jetzt zwar nicht direkt, interessiert mich aus irgendeinem Grunde aber trotzdem. Das ist wahrscheinlich die Eigenschaft, die man bei allen Forschern in überproportionalem Maße findet - Neugier. 

Als ich die Judenregister von Werther bzw. aus dem Altkreis Halle durchguckte, fiel mir auf, dass bis 1846 in den allermeisten Fällen nicht nur das Datum der Beschneidung (Brit Mila) genannt wurde, sondern auch derjenige, der dieses Ritual durchgeführt hat. In der Zeit von 1815 bis 1821, als Pastor Gieseler das Register geführt hat, erwähnt er zwar nur in einem einzigen Fall, wer die Beschneidung vorgenommen hatte ("Rabbi Moses"), aber danach, im kreisweiten Register, steht es bei jedem Jungen explizit dabei.

Und ich frage mich, was diese Information überhaupt in behördlichen Akten zu suchen hatte. Ist ja schließlich ein religiöser und kein staatlicher Akt.

Trotzdem: Wenn man diese Informationen schon mal hat, dann kann man sie ja auch nutzen. Ich habe sie also mit in Werthers Gedächtnis eingearbeitet. Der Vollständigkeit halber. Die Taufdaten der anderen Kinder habe ich ja auch erfasst.

Und weil ich gerade schon einmal dabei war, habe ich mir auch noch eine Liste der "Beschneider" angelegt. Der Grund dafür war eigentlich, dass mir der Name "Selig Werthauer" so oft aufgefallen war - und ja, bei 22 von 46 Beschneidungen, bei denen der Name des Mohel (das ist der terminus technicus) aufgeführt ist, war es Selig Werthauer, der die Prozedur durchführte:

Name Ort Anzahl Jahre
Arensberg, Julius Lage 1 1839
Baumann, Peritz Oerlinghausen, später Spenge 2 1840-1845
Boas, Bendix Lübbecke 2 1825-1830
Boas, Michel Lübbecke 1 1826
"Rabbi Moses"

1 1818
Paradies, Abraham Lage 2 1825-1827
Paradies, Isaac Lage, ab 1827 Oerlinghausen 5 1824-1831
Paradies, Samson Oerlinghausen 4 1832-1844
Posener, Joachim Bielefeld 3 1830-1846
Weinberg, Abraham Aron Westernkotten 5 1815-1828
Werthauer, Selig Herford 22 1824-1846

Selig Werthauer dürfte also ein ziemlich beschäftigter Mann gewesen sein, denn wenn ich mir die Register so angucke, dann war er nicht nur in Werther aktiv. (Und ich nehme mal an, dass die drei Herren Paradies miteinander verwandt waren.)

Soweit ich weiß, durfte ein Mohel für seine Tätigkeit als solche kein Geld annehmen, sondern nur Spesen für seine Aufwendungen. Was mich im übrigen auch zu der Frage bringt, wie vor allem Herr Werthauer seine Logistik bewältigt hat.

Ein Neugeborener musste am Abend seines 8. Tages beschnitten werden (es sei denn, das Kind war zu schwach), also war es wichtig, dass der Mohel genau dann an Ort und Stelle war. Wie genau kriegte man das hin, vor allem, wenn ein Kind ein paar Tage früher auf die Welt kam als gedacht? Heute braucht man mit dem Auto eine knappe halbe Stunde für den Weg von Herford nach Werther, aber damals war das im Grunde eine Tagesfahrt. Sagte man vorher Bescheid, so in dem Sinne, "Meine Frau bekommt wahrscheinlich in den nächsten Tagen ein Kind, und falls es ein Junge wird, hätten wir Sie gerne als Mohel bei der Brit Mila dabei..."? 

Und überhaupt - wie wurde die Brit Mila gehandhabt? Ich meine jetzt nicht zwingend den Schnitt an sich, aber in welchem Raum wurde sie durchgeführt? Wieviele Leute waren dabei? Wer war dabei? Wurde gefeiert, und wenn ja, wie? Was passierte, wenn sich die Wunde entzündete - ging man dann zum - evangelischen - Doktor?

Falls jemand Ahnung von diesen Dingen hat: Hinterlassen Sie mir einen Kommentar - ich bin neugierig!


Sonntag, 8. Januar 2017

Die Geburten in der Stadt Werther von 1815 bis 1846

Wenn ich schon einmal dabei bin, die jüdischen Wertheraner in Werthers Gedächtnis einzutragen, dann ist das eine schöne Gelegenheit, auch mal ein bisschen Statistik zu betreiben. Da bietet es sich doch an, mit den Geburten anzufangen...

Zwischen 1815 und 1846 wurden in Werther insgesamt 104 jüdische Kinder geboren. Es ist irgendwie schön, die Statistik genau aufgehen zu sehen, denn es sind genau 52 Jungen und 52 Mädchen:

Jahr Jungen Mädchen gesamt
1815
1
1
2
1816
0
1
1
1817
1
2
3
1818
1
2
3
1819
0
2
2
1820
1
3
4
1821
0
0
0
1822
2
0
2
1823
0
1
1
1824
3
5
8
1825
4
0
4
1826
3
3
6
1827
4
3
7
1828
2
0
2
1829
2
2
4
1830
2
2
4
1831
1
0
1
1832
3
0
3
1833
1
3
4
1834
3
1
4
1835
2
3
5
1836
2
2
4
1837
1
2
3
1838
1
0
1
1839
3
3
6
1840
1
2
3
1841
2
1
3
1842
1
4
5
1843
0
0
0
1844
2
2
4
1845
1
2
3
1846
2
0
2


52
52
104

Alle jüdischen Familien, die in dieser Zeit Zuwachs bekommen haben, lebten in der Wertheraner Innenstadt. Ich konnte keine Familie in den Landgemeinden finden, obwohl es zum Beispiel auch Viehhändler gab und man einen solchen ja durchaus auch nicht zwingend mitten in der Stadt vermuten müsste. Aber weil man sich in der Stadtgemeinde "knubbelte", erschien es mir sinnvoll, doch mal zu gucken, wie viele evangelische Kinder denn in demselben Zeitraum dort geboren worden sind:

Jahr Jungen Mädchen gesamt
1815
34
20
54
1816
28
27
55
1817
28
20
48
1818
20
25
45
1819
34
35
69
1820
31
26
57
1821
35
38
73
1822
27
32
59
1823
33
37
70
1824
40
27
67
1825
32
35
67
1826
39
27
66
1827
29
31
60
1828
39
26
65
1829
24
37
61
1830
29
29
58
1831
23
21
44
1832
30
29
59
1833
39
39
78
1834
41
32
73
1835
34
33
77
1836
36
45
81
1837
36
37
73
1838
35
38
73
1839
40
38
78
1840
40
38
78
1841
45
39
84
1842
41
41
82
1843
38
28
66
1844
30
37
67
1845
38
35
73
1846
42
31
73


1.100
1.033
2.133

2.133 zu 104. Grob gesprochen kann man also sagen, dass ungefähr 20 Mal soviele evangelische wie jüdische Babies geboren wurden, selbst wenn man dabei berücksichtigt, dass in den evangelischen Statistiken auch Totgeburten enthalten sind, die ich in den Judenregistern (ein fürchterliches Wort, oder?) nicht gefunden habe. Wenn man die Landgemeinden noch mit dazu nimmt, dann kann man wahrscheinlich noch einmal ungefähr 4.500 evangelische Kinder in diesem Zeitraum dazurechnen (da muss ich wohl noch ein bisschen Statistik betreiben, um diese Zahl zu verifizieren).

Schade, dass ich keine katholischen Zahlen habe, die ich der Vollständigkeit halber dagegen halten kann, aber ich schaffe es eben nicht so oft nach Paderborn ins Erzbistumsarchiv, und wenn, dann gucke ich eher nach meinen eigenen katholischen Linien. Wenn die A33 endlich mal fertig gebaut ist, wird sich das aber vielleicht ändern...

Jedenfalls kann man sich ungefähr vorstellen, wie sehr sich diese paar Familien in der Minderheit gefühlt haben müssen... aber schlug sich das im alltäglichen Leben auch nieder, und wenn ja, wie? Gut, man ging in die Synagoge, während die anderen in die Kirche gingen (wenn sie es denn taten), aber ansonsten? Man gab den Kindern traditionell andere Namen (ich habe, wie man sich denken kann, keine jüdische Ilsabein gefunden und keinen evangelischen Moses), und die Jungs wurden kurz nach ihrer Geburt eben beschnitten. Für den alltäglichen Umgang miteinander scheint mir vor allem letzteres doch ziemlich irrelevant.

Was waren also die anderen Unterschiede, und was waren die Gemeinsamkeiten? Das ist das, was mich interessiert.

Samstag, 7. Januar 2017

Die westfälischen Juden- und Dissidentenregister von 1808 bis 1874

Von vielen Familienforschern unbemerkt hat das unbemerkt hat das Landesarchiv NRW inzwischen sämtliche Juden- und Dissidentenregister aus den Jahren 1808 bis 1874 online gestellt. Und das auch noch gratis! Da muss man doch mal "danke" sagen.

Man klicke einfach auf den gewünschten Ort, dann dort auf das Kamerasymbol, und schwupp - man hat die Register innerhalb ein von nur ein paar Sekunden auf dem Bildschirm.

Eine kleine Tücke hat die Sache allerdings doch: Wie zum Beispiel für Werther findet man die meisten Register nicht unbedingt in der Stadt, in der man eigentlich sucht - dann muss man sich mal in der nächsten Kreisstadt umgucken (Werther gehörte damals ja zum Kreis Halle, der 1973 aufgelöst wurde - also findet man die Register unter Halle).  Oft lohnte es sich eben nicht, für jede Kleinstadt eigene Register anzulegen...

Meinen Nachmittag habe ich dann auch damit verbracht, die jüdischen Geburten von 1815 bis 1846 in "Werthers Gedächtnis" einzutragen. Da sind die Register wirklich wunderbar zu lesen - nur diese ganzen Patronyme machen mich rammdösig...