Wenn man früher aus Richtung Bielefeld nach Werther kam, dann musste man tatsächlich eine Insel überqueren - wenn auch nur eine kleine.
Dieses Foto hier stammt aus dem Jahr 1909 und zeigt die heutige Alte Bielefelder Straße. Die wurde zu der Zeit zwar gerne auch Kirchstraße genannt - weil sie eben direkt an der Kirche vorbeiführte -, hieß aber offiziell seit der Einführung der Straßennamen in Werther 1925 "Bielefelder Straße". Damals gab es die heutige "Bielefelder Straße" in ihrer jetzigen Form noch nicht. Dafür war das hier eine von Werthers Hauptverkehrsachsen (was wohl auch einer der Gründe war, weshalb man sie in den 1930er Jahren nochmal umbenannt hat, dieses Mal aber nur für zwölf Jahre und nach einem österreichischen Malermeister mit Allmachtsfantasien).
Wenn man genauer hinguckt, dann sieht man, dass die ersten beiden Häuser auf der rechten und linken Seite auf einer Insel im Schwarzbach lagen. Den Bach selbst kann man zwar nur erahnen, aber vorne links sieht man genauso ein Brückengeländer wie vor dem zweiten Haus auf der linken Straßenseite. Rechts ist die Mauer aus Stein. De facto musste man also eine Insel überqueren, wenn man aus Richtung Bielefeld in die Wertheraner Innenstadt wollte. Schon vorher hatte der Schwarzbach eine gewisse Bedeutung erlangt: Zur Franzosenzeit bildete er die Grenze zwischen dem Königreich Westphalen und Frankreich. Die Bewohner der Häuser hinter der Brücke waren also mal für ein paar Jahre Franzosen.
"Franzosenzeit" ist in diesem Zusammenhang ein gutes Stichwort. Nicht nur heute hat Werther an dieser Stelle noch das Problem, dass dort bei Gewittern mit Starkregen gerne mal Wasser langfließt und sich dann an einer Stelle weiter links sammelt. Auch früher war es hier schon wirklich gefährlich: Am 1. Juni 1808 starb der Bürger und Grützmacher Johann Henrich Wulfrath in seinem Haus, also dem hier auf der linken Seite. Sein Sterbeeintrag verrät, wie er ums Leben kam:
"Bey der durch den Wolkenbruch plötzl. auftretenden Ueberströmung in seinem Hause ertrunken."
Da war er 74 Jahre alt.
In den nächsten Jahrzehnten wechselte das Haus dann öfter den Besitzer, bis es 1861 von einem gewissen Schmiedemeister namens Johann Gottlieb Tiede erworben wurde. Dieser Gottlieb Tiede war aus dem Kreis Heiligenbeil in Ostpreußen zugewandert - was ihn ausgerechnet ins kleine, beschauliche Werther verschlagen hat, werden wir wohl nie erfahren - und baute hier neben seiner Familie (er hat immerhin dreimal geheiratet) auch sein Unternehmen auf: Tiede Landtechnik. Die eigentliche Schmiede, in der alles angefangen hat, befand sich in einem Gebäude hinter dem Haus. Später hatte die Firma Tiede dann ihr Betriebsgelände am Esch; ich habe nicht weit entfernt in derselben Straße gewohnt und kann mich noch gut an die Menschenmengen erinnern, die zur Tiedeschau pilgerten. Aber auch die ist inzwischen Geschichte.
Das Haus auf der rechten Seite gehörte seit 1897 dem jüdischen Viehhändler Feodor Sachs. Er ist 1942 noch in Werther gestorben. Bis 1943 wohnte noch sein Sohn Julius mit seiner Familie im Haus, dann wurden die Familienmitglieder deportiert und anschließend in Auschwitz umgebracht.
Beide Häuser und die Insel gibt es heute nicht mehr. Der Schwarzbach wurde neu verrohrt, die Häuser abgerissen. Dort, wo die Schmiede Tiede stand, wartet man heute auf den Bus, jedenfalls dann, wenn die Alte Bielefelder Straße nicht mal wieder wegen einer Baustelle gesperrt ist. Das Haus von Familie Sachs wurde 1959 abgerissen, Es stand dem Neubau des evangelischen Gemeindezentrums im Weg. Das steht zwar nicht genau an derselben Stelle, sondern etwas weiter oberhalb (da, wo der niedrige lange Schuppen direkt an der Straße war), aber es ist mit seinem Saal halt doch ein bisschen größer und hätte mit einer Ecke in das alte Haus geragt...
Nur mal zum Vergleich: So sieht es heute an genau derselben Stelle aus:
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