Wenn man genealogische Quellen auswertet, dann hat man oft das Problem, dass Leute fehlen. Ich meine das in dem Sinne, dass in Kirchenbüchern meist die Nicht- oder Andersgläubigen ausgeblendet sind (die man dann vielleicht in einem "Juden- und Dissidenten-Register" findet) und in Hofchroniken die "Untergebenen", wenn sich die Darstellung darauf beschränkt, in welcher Linie ein Hof weitergegeben wurde. Erfasst wird meist nur eine bestimmte Gruppe von Menschen, und zwar durch den Zweck der Quelle vorgegeben. Bei Werthers Gedächtnis hatte ich immer den Hintergedanken, dass sich hier alle gleichberechtigt nebeneinander tummeln sollten, egal, ob oder welcher Religion sie angehört haben, wie alt sie geworden sind oder welche gesellschaftliche Stellung sie inne hatten. Wenn jemand in Werther geboren war, geheiratet hatte oder dort gestorben war, und sei es auch nur durch einen doofen Zufall, dann reicht das völlig aus, um in Werthers Gedächtnis aufzutauchen. Man kann auch Leute darin finden, die einfach nur dort gelebt haben.
Kurzum: Werthers Gedächtnis soll inklusiv sein. Keine Schubladen.
Trotzdem, die Religion macht mir Probleme.
Bis jetzt habe ich es so gehalten, dass ich Juden und Jüdinnen mit einem * hinter dem Namen markiert hatte, Katholiken und Katholikinnen mit **, und bei allen anderen, die nicht evangelisch waren, habe ich den Namen der Religion ausgeschrieben. Das rührt noch aus den Anfangszeiten her, weil ich mit den evangelischen Kirchenbüchern angefangen hatte und dort höchstens mal ein angeheirateter Katholik vorkam. Außerdem hatte noch ein paar Genealogien gefunden, in denen Wertheraner Juden auftauchten. Sekundärquellen, die ich noch überprüfen wollte. Die eigentlichen (Primär-)Quellen hatte ich aber noch gar nicht eingearbeitet, weil ich dachte, dass das hier sowieso mein Privatvergnügen sei und es das auch bleiben würde.
Es kam anders. Ich hockte nicht nur über den Kirchenbüchern von Werther, sondern zum Beispiel auch über denen von Stockkämpen, und es erschienen immer mehr Originalquellen online. Archion, Matricula und dem Landesarchiv sei Dank. Ich merkte, dass mein Blog von immer mehr Leuten gelesen wurde, weil mich immer mehr Leute darauf ansprachen oder mir Mails schickten. Da war irgendwann der Punkt erreicht, an dem es für meinen eigenen Anspruch notwendig wurde, auch bei Werthers Gedächtnis die Quellen mitzuerfassen. Auch wenn das hieß, dass ich mir damit wahrscheinlich noch ein paar zusätzliche Jahre Arbeit eingeheimst hatte. Auch gut.
Inzwischen gucke ich mir die * und ** an und frage mich nicht nur, ob sie noch notwendig sind, sondern auch, ob sie nicht sogar diskriminierend sind?
Vor ein paar Jahren hatte ich hier mal einen Post darüber geschrieben, wer denn bei den jüdischen Wertheraner Jungs die Beschneidungen vorgenommen hat. Die Beschneidungen habe ich genauso eingearbeitet wie die Taufen bei den christlichen Kindern, weil ich die Daten eben hatte und es für die Familien wahrscheinlich ein bedeutendes Ereignis war. Heute gucke ich darauf und frage mich, welchen Mehrwert diese "Beschnneidungs-Info" bei Werthers Gedächtnis hat. Ob sie überhaupt einen hat. Auf die Taufen kann ich nicht verzichten, weil ich manchmal nur ein Taufdatum und kein Geburtsdatum habe und weil die Paten oft bei der Entschlüsselung der Verwandtschaft helfen können. Aber die Beschneidungen? Wird damit nicht eine Aufmerksamkeit auf ein "Anderssein" gelenkt, die ich eigentlich vermeiden wollte?
Muss ich im eigentlichen Text überhaupt Angaben über die Religion machen, und wenn ja, muss ich es dann nicht bei jedem hinschreiben? Das hieße im Umkehrschluss, dass ich bei allen anderen auch noch "evangelisch" hinschreiben müsste, und der Gedanke an das ewige Copy & Paste schreckt mich wirklich ab! Und wir reden hier wirklich von Tausenden von Einträgen.
Ich glaube, ich werde tatsächlich auf die Religionszugehörigkeit im Text verzichten. Wer etwas über die Religion wissen will, der soll in die Quellen gucken oder sich auch meinetwegen die Originaldokumente ziehen.
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