Donnerstag, 30. September 2021

Cousin Fritz: Zur falschen Zeit am falschen Ort

Der 30. September 1944 war ein schlimmer Tag - Bielefeld wurde von den Alliierten bombardiert, in diesem Fall von den Amerikanern. Quasi die gesamte Altstadt fiel den Bomben - und danach den Flammen - zum Opfer. Hier kann man eine gute Zusammenfassung der Ereignisse lesen: 


Der Bielefelder Stadtkern liegt gerade mal 10 km vom Wertheraner Stadtkern entfernt. Es war also kein Wunder, dass an diesem 30. September auch viele Wertheraner in Bielefeld unterwegs waren. Leute, die Besorgungen machten. Schüler, die die weiterführende Schule besuchten. Alles Menschen, die mit der Kleinbahn von dem Bahnhof an der Herforder Straße aus über Schildesche und Dornberg wieder nach Werther zurück fahren wollten. 

Es kam anders. 

In ihrer Chronik "Werther - 1000 Jahre von "wartera" bis Werther" schrieb Erika Stieghorst

"Waren im Laufe des Krieges auch schon Luftangriffe auf Bielefeld geflogen worden, so brach mit dem Großangriff vom 30. September 1944 ein unvorstellbares Inferno über die Menschen und die Stadt herein.  
Um die Mittagszeit heulten die Sirenen, auch in Werther, um die Feuerwehr und den Luftschutz zu alarmieren. Schon bald wurde dann bekannt, der Kleinbahnhof in Bielefeld an der Herforder Straße sei durch Bombentreffer in Schutt und Asche gelegt worden. Jedermann wußte, daß auch Wertheraner, vor allem Schüler, dort gewartet haben mußten, um mit dem Mittagszug zurückzufahren. In großer Angst und Sorge machten sich die Angehörigen auf den Weg nach Bielefeld, um die Kinder zu suchen. Sie erwartete eine schreckliche Gewißheit.  
Nur wenige der jungen Menschen waren mit dem Schrecken davon gekommen. 12 Schülerinnen und Schüler mußten den Luftangriff mit ihrem Leben bezahlen, dazu weitere 14 Wertheraner." 

Diese 26 Wertheraner müssten eigentlich im Bielefelder Sterberegister von 1944 zu finden sein, weil sie als Zivilisten am Ort ihres Todes eingetragen werden mussten. Ich bin noch nicht dazu gekommen, mir das Sterberegister selbst mal anzugucken, habe hier aber ein Buch namens "Die Kriegsopfer des Amtes Werther 1939-1948", herausgegeben im Jahr 1958 vom "Krieger-Verein Werther", in dem auch die Opfer der Bombardierung vermerkt sind. Man erkennt sie am Sterbedatum. Danach komme ich auf "nur" 24 Wertheraner, die an diesem Tag in Bielefeld geblieben sind. Den Unterschied von zwei Personen kann ich mir noch nicht erklären. Aber zurück zu Erika Stieghorst: 

"Niemals standen vor dem Altar in der Werther Kirche so viele Särge wie bei der Trauerfeier für diese 26 Opfer, und die Kirche konnte die von Kummer und Leid erfüllten Menschen kaum fassen.  
Zuvor hatte es sogar noch eine Auseinandersetzung mit Vertretern der Partei gegeben, nach deren Willen die Trauerfeier in der Turnhalle abgehalten werden sollte. Die Bevölkerung war damit jedoch nicht einverstanden. Der energische Ausspruch einer Mutter, die ihre 14-jährige Tochter, das 3. Kriegsopfer der Familie, verloren hatte, beendete die Differenzen. Sie erklärte: "Die Partei kann die Särge in die Turnhalle bringen, die Trauergäste aber werden in der Kirche sein." 

Auch hier kann ich nicht sagen, ob diese Geschichte 100 %ig stimmt, denn ich habe zwar bis jetzt zwei 15jährige, aber kein 14jähriges Mädchen unter den Opfern gefunden. Wenn der Ausspruch aber tatsächlich so gefallen sein sollte, dann hat diese Frau auch heute noch meinen höchsten Respekt. Die Trauerfeier aber fand tatsächlich in der Kirche statt. 

Ich weiß auch nicht, wer von meiner Familie dabei war, aber dass sie auch betroffen waren, obwohl sich keine Schwentkers in dem Buch des Kriegervereins finden, steht fest: 

Am 16. August 1940 hatte meine Großtante Marie Schwentker, die älteste Schwester meines Großvaters Hermann, den Monteur Franz Friedrich Reich aus Sodeiken im Kreis Gumbinnen geheiratet. Für sie war es mit ihren immerhin auch schon 36 Jahren die erste Ehe, für ihn nicht, denn er war schon 1926 in Bielefeld mit Caroline Lahaye vor den Traualtar getreten, die aber schon 1937 gestorben war. Aus dieser Ehe brachte Franz zwei Kinder mit in die Ehe, einen Sohn und eine Tochter. Marie wurde damit zur zweifachen Stiefmutter. Die Tochter lebt auch heute noch, wir telefonieren ab und an. Der Sohn, Fritz, wollte an jenem 30. September 1944 vom Bielefelder Kleinbahnhof nach der Schule nach Hause fahren. Zu Hause, das war das Haus in der Engerstaße, in dem die fünf Reichs (im Dezember 1941 hatte auch Marie noch einen Jungen geboren) damals zusammen mit den Schwentkers wohnten. Fritz  kehrte nicht mehr dorthin zurück. Er war 16. Wenn man so will der "angeheiratete" Cousin meines Vaters. 

Ich nehme also an, dass zumindest Marie und Franz an diesem Tag in der Kirche waren. Zusammen mit sehr vielen anderen. 




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