Sonntag, 24. April 2022

Mit Nadel und Faden

YouTube ist eine Wundertüte, und manchmal findet man auch Kanäle, bei denen man richtig etwas lernen kann. Zum Beispiel den eines Schneiders, der sich auf historische Kleidung spezialisiert hat, und deshalb viel per Hand näht.

Warum ich hier davon berichte? Nun ja - erstens, weil es mir einen ganz neuen Blick auf das Thema eröffnet hat, und zweitens, weil ich - wie ich hier schon einmal geschrieben habe - ziemlich viele Schneider in meinem Stammbaum habe, vor allem bei meinen Sickendieks

Wie also arbeitete so ein Schneider?

Zunächst einmal wurde der Tisch so nah wie möglich ans Fenster gerückt, um das Tageslicht so effektiv wie möglich ausnutzen zu können. Alles andere hätte die Augen auf Dauer zu sehr angestrengt. Ein guter Schneider schaffte immerhin 30 Stiche in der Minute. Aber warum saß man zum Nähen überhaupt auf dem Tisch und nicht auf einem Stuhl oder auf dem Boden? 

Der Boden schied schon aus zwei Gründen aus: erstens war er schwieriger sauber zu halten (was ich mir vor allem dann gut vorstellen kann, wenn der Schneider wie so oft auch noch eine kleine Landwirtschaft betrieb, um die Familie ernähren zu können), und zweitens hatte der Schneider dann das Problem, dass es ihm im wahrsten Sinnes des Wortes "arschkalt" wurde. Keine Ahnung, ob der Begriff so entstanden ist, aber wundern würde es mich nicht. Außerdem hatte man es mitunter mit großen Mengen Stoff zu tun, die man nicht über den Boden schleifen wollte, die aber je nach der Art des Stoffes schwer zu bewegen waren.

Warum aber setzte sich der Schneider dann nicht einfach auf einen Stuhl? Ganz einfach eigentlich - es ist eine Frage der Haltung! 

Sitzt man auf einem Stuhl, fängt man irgendwann an, den Rücken krumm zu machen. Erwischen wir uns nicht alle dabei, wenn wir mal längere Zeit am Schreibtisch verbringen? Ich mich jedenfalls schon. Fehlt einem aber die Lehne, sitzt man aufrechter, und der Rücken wird entlastet. Sicher, es gab immer Schneider, die ein Kissen zwischen den Tisch und ihren Allerwertesten geschoben haben, um es wenigstens etwas bequemer zu haben, denn eine Tischplatte ist nunmal relativ hart. Das ändert aber nichts daran, dass man dann die Lendenwirbelsäule gerade macht und die Schultern nach hinten nimmt, also genau das, wozu einem die Apotheken-Umschau und sämtliche Orthopäden immer raten. 

Trotzdem - ich würde das nicht lange aushalten. Aber ich bin ja auch ungeübt und habe einen bequemen Schreibtischstuhl. Eins ist ist mir aber klar geworden: Auch wenn ein Schneider meist im Schneidersitz  vor sich hinwerkelte, die Schneiderei war tatsächlich verflixt harte körperliche Arbeit! 

In unseren Breiten kamen Nähmaschinen erst in den 1850er Jahren auf, und zwar zunächst als Nachbauten der schon vorhandenen amerikanischen Modelle. Ich denke mal, dass mein Urgroßonkel Johann Wilhelm Schwentker (geboren 1877), der Schneider in Werther war, schon hauptsächlich mit einer Nähmaschine gearbeitet hat, genauso wie mein Ur-Urgroßvater Heinrich Wilhelm Sickendiek (geb. 1863) in Hörste. Das Arbeiten des Schneiders änderte sich damit grundlegend, blieb aber immer noch anstrengend genug. 

Dadurch, dass dank der Industriellen Revolution zunehmend in Fabriken genäht wurde, wurde von denen, die dort arbeiteten, immer mehr Akkordarbeit gefordert, um die Gewinne hochzuschrauben. Damit wurde der Job immer mehr von Frauen gemacht, die klassischen kleinen Schneidereien wurden weniger.

Das hat sich bis heute nicht geändert, nur, dass die Näherei kaum mehr in Deutschland stattfindet. Wir haben das Problem der schlecht bezahlten Akkord-Schufterei schlicht verlagert. Auch wenn ich mit gutem Gewissen behaupten kann, dass ich nie im Leben einen Primark-Laden betreten habe, so wird mir doch mulmig, wenn ich auf den Etiketten sehe, wo meine Kleidung gefertigt wurde. Genau heute vor neun Jahren, am 24.04.2013, ist das Rana Plaza bei Dhaka in Bangladesch eingestürzt, das achtstöckige Gebäude, in dem viele Textilfirmen untergebracht waren und in denen Tausende Näherinnen unter Bedingungen schufteten, die wir als Gesellschaft eigentlich schon längst hinter uns gelassen haben sollten. 1.135 Menschen kamen ums Leben, 2.438 wurden verletzt. 

Es ist ein langer Weg von meinem Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßvater Erdwien Sickendiek (geb. ca. 1692, gest. Anfang November 1740 in Bockhorst) bis zum Rana Plaza. Ich bin mir aber sicher, dass ein paar entscheidende Unterschiede gibt: Erdwien arbeitete auf eigene Rechnung, und deshalb musste er darauf achten, dass die Kleidungsstücke, die er nähte, qualitativ so gut waren, dass seine Kunden wieder kamen, so dass seine Werke nicht nach dreimaligem Tragen auf einer Müllkippe gelandet sind. 

Vielleicht sollten wir uns in diesem Fall wirklich mal auf die alten Werte rückbesinnen: Qualität statt Quantität. 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Wer etwas ergänzen möchte, kann das hier gerne tun: